Mori-Ôgai-Gedenkstätte Berlin / ベルリン森鷗外記念館・ベアーテ・ヴォンデ

Yamamoto-Yasue-Preis

Aus HUMBOLDT:
Yamamoto-Yasue-Förderpreis
Die Förderpreise der japanischen Yamamoto-Yasue-Stiftung 1995 wurden am 27.Februar in der Tokyoter Iwanami-Hall an die Regisseurin Sumiko Haneda, die Schauspielerin Sumiko Kitajima und an Beate Weber verliehen, die seit 1984 die Mori-Ogai-Gedenkstätte der Humboldt-Universität betreut.
Yamamoto Yasue war eine der bedeutendsten Schauspielerinnen des japanischen modernen Sprechtheaters. Unvergessen ist sie noch heute durch ihre Darstellung des “Abendkranich” von Junji Kinoshita, der in der Übersetzung von Jürgen Berndt bereits mehrfach auf deutschen Bühnen gezeigt wurde.
Frau Weber erhielt den Preis für ihr langjähriges Wirken an der Mori-Ogai-Gedenkstätte als Kulturvermittlerin zwischen Japan und Deutschland.

Oft werde ich gefragt, warum ich einen Kranich auf meinen Visitenkarten habe.
Es soll ein Abendkranich sein – ein Bezug auf die Paraderolle der japanischen Schauspielerin Yamamoto Yasue im Stück von Konishita Junji, nach der dieser Theaterpreis benannt wurde. Das Stück hat Prof. Berndt in meiner Studienzeit für die „Japanischen Dramen“ übersetzt, war mir lange vor dem Preis vertraut und nah.
Ihre Figur, ein verletzter Vogel, der sich in eine Frau verwandelt hat, hilft ihrem Retter und späteren Mann, indem sie nachts aus ihren Federn wunderschöne Teppiche, Stoffe webt, die er auf dem Markt verkaufen kann. Beide haben so eine zeitlang ein gutes, liebevolles Leben miteinander. Nur Tsu (von Tsuru, Kranich) wird immer dünner. Ihre einzige Bedingung war, dass ihr Mann nicht nachschauen darf, was sie nacht sim Nebenzimmer treibt. Seine Gier nach mehr Gütern und seine Neugier siegen, er beobachtet, wie sie ihre Federn verwebt. Am nächsten Tag ist sie ein erschöpfter, unrettbarer Vogel vor seinem Haus. Er hat keine Frau mehr.

In meiner alten Heimat, der Lausitz, kommen die Kraniche, wenn Tagebaue geflutet werden… Heute schaue ich mir ihre abendlichen Flugübungen auf dem Kunsthof Lietzen an.

Als ich den Preis am 27. Februar erhielt, hieß ich noch Weber und mochte es auch nicht, wenn jemand schnüffelte, wie ich meine Netzwerke und Projekte webte. Wozu auch die Ergebnisse konnten sich sehen lassen. Nur dass ich bei dem Dauerstress nicht dünner wurde wie Tsu, im Gegenteil…

Ich habe gerade bei meinem Ruhestands-Aufräumen einen Brief gefunden, den ich damals an Hirotsugu Ozaki, dem Herausgeber der Theaterzeitschrift „Higeki Kigeki“ und Mitglied der Jury, dem ich meine Nominierung verdankte, geschickt habe:

An Herrn Hirotsugu Ozaki Beate Weber
Vorsitzender des Rates der Brehmestr. 55
Yamamoto- Yasue- Stiftung 13187 Berlin
1-33-3 Daita, Setagaya-ku
Tokio JAPAN

Berlin, den 24.1.1996

Lieber Ozaki-sensei,

träume ich ein Leben oder lebe ich einen Traum? Ich habe Herzklopfen bis zum Halse und vor meinem geistigen Auge laufen Szenen ab wie bei einem Videofilm im Schnelldurchlauf. Szenen, die jede für sich stehen, bisher scheinbar nichts miteinander zu tun hatten, und nun plötzlich einen weiten Bogen bilden, der sich fast schließt. Nun, ein Rest an Rätselhaftem muß noch bleiben, schließlich fängt gerade erst die zweite Hälfte meines Lebens an… Und an dieser Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt, in einer Phase der intensiven Rückschau und Neubesinning, flattert plötzlich ein leichter Luftpostbrief ins Haus mit Ihrer seit Jahren von den Briefumschlägen auf den Sendungen mit “Higeki Kigeki” so vertrauten Schrift – wenn ich es recht bedenke, ist Ihre monatliche Zeitschriftenpost das einzige treue Band, das seit meiner Rückkehr vom Studienaufenthalt in Japan 1981 nie abgerissen ist. Ihre Treue und Kontinuität sind Eigenschaften, die man in meiner Generation selten antrifft – ich nehme mich selber dabei überhaupt nicht aus. Eigentlich hatte ich erwartet, dass eines Tages kein “Higeki Kigeki” mehr in meinem Briefkasten ankommt, weil ich so schreibfaul war und Ihnen trotz aller guten Vorsätze fast nie meine Gedanken als Leser mitgeteilt habe. Ich hatte so selten Zeit, die Artikel zu lesen und ging voll in meinem Leben und meiner Arbeit hier auf. Nicht nur, dass ich wenig über das japanische Theater gelesen habe, selbst hier war ich schon gut, wenn ich es noch einmal im Jahr schaffte, ein Theater von innen zu sehen. Was einst ein Suchtmittel oder Über-lebens-mittel war, ist heute eine stille Sehnsucht, eine Kostbarkeit geworden. Auch deshalb habe ich Ihnen nie geschrieben: Mir war klar, dss ich zu dem uns beide verbindenden Thema “Theater” nicht mehr aussagefähig bin, weder hier noch in Japan. Zu lange war ich abstinent von allem.
Ein deutsches Sprichwort sagt: “Man kann nicht auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen!”, und meine Hoch-Zeit war in den vergangenen Jahren die Mori-Ogai-Gedenkstätte, mit der war ich auf Gedeih und Verderb verbunden und verheiratet war, alle Liebhabereien mussten warten.
Merkwürdigerweise habe ich gerade in der letzten Woche häufig an Sie gedacht. Am letzten Dienstag war nämlich die Beerdigung von Heiner Müller auf dem Doretheenstädtischen Friedhof, auf dem auch Brecht begraben ist. Mir ist, als hätten wir ihn damals in Berlin gemeinsam getroffen? Wissen Sie noch, als Sie mit Sugai-sensei hier waren, der später die Biografie von Yamamoto Yasue “Aruite kita michi” schrieb, die jetzt auf meinem Schreibtisch vor mir liegt und in der ich in letzter Zeit vor dem Schlafengehen geblättert habe, nicht ahnend dass ich eines Tages einen Yamamoto-Yasue-Preis erhalten würde … fushigi na en desho?!
Jedenfalls habe ich so bei mir gedacht, ob wohl die Freunde in Japan informiert sind? Ob wohl jemand einen Artikel über Heiner Müller geschrieben hat? Dabei wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich von hier aus etwas schreiben sollte. Darüber, welche Dankbarkeit wir empfinden, für alles, was Heiner Müller in unseren Köpfen bewegt hat, wie er seit ich denken kann mein Leben mit seinen ketzerischen, aphoristischen Sprüchen begleitet hat. Ich erinnere mich an sein Charisma bei Interwiews die ich zu dolmetschen versuchte, wie beängstigend weitschauend und direkt er war, wie er mit Jahrhunderten, Utopien, Kriegen, Klassen, Weltuntergängen spielerisch operierte und dabei oft den schmerzlichen Kern einer Sache traf. Nun ist er lautlos von uns gegangen, Hunderte standen schweigend an seinem Grab, froren und spürten den Verlust. Noch im November habe ich im Berliner Ensemble seine Inszenierung von Brechts “Arturo Ui” gesehen, in der mir manchmal der Atem stockte, so ertappt und gespiegelt fühlte ich mich. Während der Proben dazu ließ er mich anrufen. Er brauchte für den Gestus des Arturo Ui ein Video über Bunraku, er wollte dem Hauptdarsteller die stereotypen Bewegungen zeigen, die ihn in Japan fasziniert hatten. Ich besaß kein solches Video, kannte aber jemanden, der eins hatte… Wenn ich es recht bedenke, war ich fast beiläufig in den letzten 10 Jahren in dieser Weise als Brückenbauer oder kultureller go-between (Miai) tätig. Vermittler wäre zu hochgestochen. Es ist einfach so, dass durch die unzähligen Begegnungen mit Menschen und den dabei gemachten Erfahrungen in meinem Kopf wie in einem Computer viele Informationen gespeichert sind. Zwar arbeitet die japanische Software noch getrennt von der deutschen Software, aber wenn in der Datei Japan eine rote Lampe aufblinkte “Suchen”, dann wusste ich, wo man in der Datei Deutschland das gewünschte Programm finden könnte und gab die Informationen weiter. Auf diese Art sind ganz interessante Projekte entstanden, die dann eine Eigendynamik entwickelten, so dass ich mich bald zurückziehen und als lachender Dritter von außen an dem Fortgang erfreuen konnte. Für die Zukunft wünsche ich mir in meinem Kopf eine Software, die japanisch und deutsch gleichzeitig betriebsbereit hat mit fließenden Übergängen.
Mein Gott, ich rede und rede, nur weil es mir peinlich ist, weil eine Stimme in meinem Kopf immer fragt: Wieso gerade du? Du hast doch nichts Besonderes, Eigenes, Schöpferisches vollbracht, nur vermittelt, zäh gekämpft, Fehler gemacht, durchgehalten – im Grunde Charakterzüge ausgelebt, die mich seit meiner Kindheit geprägt haben (anderes blieb dabei auf der Strecke…).
Doch bevor ich fortfahre mich zu rechfertigen, was Sie wohl am allerwenigsten von mir erwarten, bin ich Ihnen noch eine Erklärung schuldig, warum ich erst heute Nacht hier in Decken gehüllt an meinem Schreibtisch sitze und Ihnen antworte:

Ich habe ihre Post erst vor 3 Stunden erhalten!!!
Ausgerechnet dieser wichtige Brief ist in Berlin umhergeirrt. Zwar stand auf dem Umschlag “Lussenstrasse” statt “Luisenstraße”, doch auch ein völlig verschlafener Postbote müsste erraten können, welche Straße damit gemeint ist. Am 7.Dezember ist Ihre Post daraufhin in der Zentralen Poststelle der Humboldt-Universität eingegangen und von dort hat man den Brief offensichtlich an das neu eröffnete “Zentrum für Sprache und Kultur Japans” geschickt, zu dem nun auch die Mori-Ogai-Gedenkstätte gehört. Nun war aber am 19.Dezember der große Umzug der Japanologie in dieses Zentrum und inmitten dieser Wirren muss Ihr Brief in ein falsches oder totes Postfach gerutscht sein. Jedenfalls erhielt ich ihn erst heute mitten in einer Dienstbesprechung, wunderte mich, öffnete ihn und habe seitdem Herzklopfen. Ich bin so aufgewühlt und verwirrt!
Ozaki-sensei, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie überrascht ich bin und wie sehr ich mich über diese Anerkennung freue. Heute ist der 24. Januar. Hätte ich Ihre Post rechtzeitig erhalten, wäre es eine Weihnachtsüberraschung geworden. Nun findet Weihnachten eben mit genau einem Monat Verspätung statt.
Den Förderpreis nehme ich mit großer Dankbarkeit an, stellvertretend für alle Menschen, die täglich Kleinarbeit bewältigen, mit Menschen arbeiten und dadurch auf ihre Art jenseits vom Rampenlicht wirken. Dabei denke ich nicht sosehr an das Geld. Zugegeben, es beruhigt und will in etwas Besseres verwandelt werden. Bitte verzeihen Sie, dass ich innerhalb von 3 Stunden noch unschlüssig bin, wie ich es freude- und nutzbringend verwenden werde.
Vielmehr ist es für mich wie ein Signal, einen Preis zu erhalten, der mit dem Namen Yamamoto Yasue verbunden ist. Ich habe sie nie persönlich kennengelernt, aber immer still bewundert, ja sogar beneidet um einen Freund wie Kinoshita Junji, der ihr Rollen auf den Leib schrieb, die nichts an Lebendigkeit verloren, wie oft sie die Rollen auch spielte. Ganz gleich in welch hohem Alter sie war und wie wenig sie vielleicht dem herkömmlichen Schönheitsideal entsprach, einem Phönix gleich verkörperte sie Mal um Mal die alterslose, unversiegbare sanfte Energie der Liebe auf der Bühne.
Ich glaube, Mitte der 80er Jahre habe ich einmal einen Artikel in einer deutschen Theaterzeitschrift über die 1000.Vorstellung von “Yuzuru” geschrieben. In unserem Denken sind 1000 Vorstellungen eine astronomische Zahl und niemand konnte glauben, dass die Qualität nicht leidet, das Stück nicht in Mechanik und Klischee erstarrt.
Irgendwo habe ich neulich gelesen.” Die Kunst des Lebens besteht in der Wiederholung, in ständig wiederkehrenden Tätigkeiten”.
Vielleicht ist das eine Gemeinsamkeit, die mich mit Yasue-san verbindet – außer dass wir beide eine lange Nase und richtige Charakterköpfe haben – die gleichen Dinge zu wiederholen und dabei trotzdem lebendig, intensiv und authentisch zu bleiben, andere zu überzeugen und diese Wiederholungen als eigenen Wachstumsprozess zu verstehen.

Wissen Sie, was das Komische an der Preisverleihung ist? In meinem 40.Lebensjahr habe ich eine tiefe Krise durchlebt. Damals setzte ich mich hin und schrieb eine Liste: “40 Dinge, die ich in meinem Leben unbedingt tun oder erleben will” – für jedes Lebensjahr ein guter Vorsatz. So ziemlich am Anfang kam: “Ich möchte einmal im Leben auf der Bühne eine Rolle spielen, die mir auf den Leib geschrieben ist, und die Zuschauer damit fesseln”. Ogai würde jetzt lächeln und sagen: “Wir stehen alle auf der Bühne, das ganze Leben ist nur Theater”. Und wenn schon, was glauben sie wohl, welche Rolle ich dabei im Hinterkopf hatte? Nein, nicht “Aschenbrödel”, die Phase habe ich hinter mir, sondern “Medea”. Ja, ich wollte wütend sein und schreien, vor nichts zurückschrecken – Herr Ninagawa sollte seine helle Freude an mir haben, wenn er meint, japanische Schauspielerinnen können nicht laut und böse genug sein!
Und nun plötzlich Yamamoto Yasue, die ich immer als Tsu, als Abenkranich vor mir sehe. Ich frage mich, sollte ich nicht lieber Medea in der ersten Lebenshälfte zurücklassen und mich am Beginn der nächsten Etappe mehr an Tsu’s Sanftmut orientieren?
Fast 3 Jahre ist es nun her, daß der Begründe der Mori-Ogai-Gedenkstätte, mein Freund und Lehrer Prof. Jürgen Bernd plötzlich verstorben ist. Seine Übersetzung des “Yuzuru” ist mehrfach auf deutschen Bühnen inszeniert worden. Kein anderes japanisches Drama hat es zu solcher Beliebtheit gebracht. Ich denke heute auch an ihn, denn ohne ihn und meine japanische Sprach-Mutter wüsste ich heute nicht, wer Yamamoto Yasue war und wem ich diese Auszeichnung verdanke.

Ich finde, es gibt Menschen, die reagieren ganz natürlich auf kritische Situaionen: Sie helfen, kämpfen, setzen sich ein. Und ist die Gefahr vorüber, erleiden sie manchmal einen Schock, weil ihnen die Gefahr, in der sie schwebten, erst jetzt richtig bewusst wird. So geht es mir im Moment. Als die Lage keinen Anlass zu Optimismus bot, habe ich stur durchgehalten. Jetzt besteht für die Mori-Ogai-Gedenkstätte keine unmittelbare Gefahr mehr. Durch eine Fülle von glücklichen und vielleicht auch unglücklichen Fügungen hat sie als einziges kleines Museum in Berlin die Wendezeit überlebt und steht heute auf sicheren Beinen: Sie hat einen neuen Professor als Direktor, die Humboldt-Universität hat sich verpflichtet, die Grundkosten zu tragen und dank der zahlreichen wohlwollenden Spenden aus Japan kann die MOG Aktivitäten finanzieren, wie Ausstellungen, Kurse, Veranstaltungen und z.T. Forschungs- und Übersetzungsprojekte.
Die Schlacht ist vorüber. Es ist fast Frieden. Und die Soldaten mit den langsam verheilenden Wunden werden geehrt. Was macht ein Soldat im Frieden? Vielleicht weniger kämpfen und wieder mehr lernen? Endlich etwas Eigenes hervorbringen, einen Neuanfang suchen, wo sich mit dem heutigen Tage so viele Kreise wieder geschlossen haben?
Lieber Ozaki-sensei, bitte haben Sie Verständnis, daß ich nicht zur Preisverleihung nach Tokyo komme. Ich kann mich so schnell nicht entschließen und es wäre schade, das Geld gleich wieder für ein Flugticket auszugeben. Ich brauche nach der heutigen freudigen Überraschung noch Bedenkzeit. Überhaupt glaube ich, dass ich dieses laufende Jahr noch brauche, um z.B. die Geschichte (Funtoki) der Gedenkstätte zu Papier zu bringen, mein Leben zu ordnen und die “Vergangenheit” Stück für Stück hinter mir zu lassen. Ich trage so viele Erinnerungen und Geschichten in meinem Kopf spazieren. Solange ich die nicht aufgeschrieben habe, drücken sie in meinem Kopf, lassen keinen Platz für Neues.
1997 möchte ich wieder nach Japan kommen. Diesmal nicht dienstlich zwecks Spendeneinwerbung sondern in Ruhe. Der Yamamoto-Yasue-Preis gibt mir die nötige Gelassenheit. Natürlich möchte ich wieder einmal 24 Stunden am Tag japanisch sprechen und denken, Freunde treffen, ins Theater gehen, und vor allem als eine Art “umgekehrter” Ôgai mit 100 Jahren Verspätung die Zeit nutzen für neue Erfahrungen auf dem Gebiet der traditionellen japanischen Medizin. Ich habe in Berlin mehrere Kurse besucht für Shiatsu, Katsugen, Seitai, Kikô, Kokyuho und Reiki. Manches scheint mir dabei über den Umweg Europa verwässert, anderes durch die Akzeptanz und das Interesse in Europa erst richtig gewürdigt. Ich möchte zu den Ursprüngen zurück. Sie werden sich sicher über meinen Weg vom Japanischen Theater über Ogai hin zu Heilpraktiken wundern. Für mich ist es ein Weg, der mich manchmal selbst überrascht, es hat sich einfach so ergeben, auch als Fluchtoption.

Wie Sie wissen habe ich einige kulturpraktische Erfahrungen, abgesehen von der täglichen Arbeit in der Gedenkstätte, seien es nun Gastspiele, Ausstellungen oder Übersetzungen. Dennoch werde ich den Eindruck nicht los, dass wir kopflastigen Europäer heute mehr denn je die Hilfe japanischer bzw. traditioneller Heilkunst benötigen, um inmitten der Hektik des Lebens den Bauch wieder zu spüren, dem Ki Raum zu lassen und unsere Mitte zu finden, um dem alltäglichen Wahnsinn und der Zerstörung endlich Einhalt zu gebieten. Ich denke, dieses “japanische Kulturgut” brauchen die Menschen heute, aber nicht von Scharlatanen.

Dafür dass ich Ihnen 10 Jahre lang überhaupt nicht geschrieben habe, überhäufe ich Sie heute mit Post. Verzeihen Sie.
In den nächsten Tagen werde ich den Yuzuru wieder lesen, darauf freue ich mich schon. Es wäre schön, wenn ich Yamamoto Yasue wenigstens einmal auf Video sehen könnte.
Bitte danken Sie den Mitgliedern des Yamamot-Yasue-sho-iinkai für das Vertrauen und die Wertschätzung, die sie mir einstimmig entgegen gebracht haben. Ich bin heute sehr glücklich!
DANKE und herzliche Grüße
Ihre Beate Weber

Und noch einer der Briefe, die später als „Berurin kara no tayori“ in Higeki Kigeki abgedruckt wurden, von 1999:

16.1.99
Berurin kara no tayori
Lieber Ozaki-sensei,
hat das Neue Jahr erfreulich und gesund für Sie begonnen? Danke auch für die regelmäßige Zusendung von Higeki/Kigeki. Ich dachte, beiliegender Artikel könnte Sie interessieren. Nach Heiner Müllers Tod war es einige Zeit recht still um ihn geworden. Im vergangenen Jahr ist im Zuge der Veröffentlichung seiner Gesamtausgabe ein Band mit Gedichten von Heiner Müller bei Suhrkamp erschienen. Diese Gedichte haben ziemliches Aufsehen erregt, weil man diese Seite an ihm gar nicht kannte. Es stellte sich heraus, Müller ist mehr als der Dramatiker und Regisseur. Der Poet kann sich mindestens ebenso sehen lassen, sind sich die Kritiker einig.
Dieser Tage finden zu seinem 70. Geburtstag im Berliner Ensemble (wird ab Mai wegen Renovierung vor dem Amtsantritt von Peymann für 6-9 Monate geschlossen) jedes Wochenende Lesungen aus Texten Heiner Müllers statt. Kaum einer der renommierten Schauspieler, die mit Heiner Müller gearbeitet haben, läßt es sich nehmen, durch sich hindurch den Meister selbst zu Wort kommen zu lassen und durch die Auswahl der Texte seine eigene Sicht auf Müller vorzustellen.
Vor dem Berliner Ensemble stehen dann eine Menge Leute Schlange, die Vorstellungen sind restlos ausverkauft – als wäre Müller wieder auferstanden. Es gibt eben doch Worte, nach denen die Menschen wieder hungrig sind, wie ein Hungernder nach Brot – und das inmitten all des Überflusses. Das sollte doch optimistisch stimmen, nicht wahr?

Seien Sie herzlich aus Berlin gegrüßt
von Ihrer
Beate Weber


Theater《関連記事》