Mori-Ôgai-Gedenkstätte Berlin / ベルリン森鷗外記念館・ベアーテ・ヴォンデ

Zum 170. Geburtstag der Schriftstellerin Ossip Schubin im 100. Todesjahr von Franz Kafka

Im Frühjahr 2024 habe ich nachts von Prag geträumt, von einer Begegnung, die fast 50 Jahre her ist. Am nächsten Morgen wurde mir klar, dass ich schon lange nicht mehr in Prag war, immer nur auf der Durchfahrt. Und die Lust, auf alten romantischen Spuren zu wandeln führte dazu, dass ich mir kurzerhand in einer schrägen Unterkunft, die wie ein Metro-Wagen eingerichtet war, eine Unterkunft buchte. Kurz vor der Abfahrt dachte ich: wen kenne ich eigentlich in Prag? Und da fiel mir Thomas Kirschner wieder ein, mit dem ich 2010 engen Kontakt hatte in Zusammenhang mit meinem Ossip-Schubin-Vortrag bzw. der Veröffentlichung an der Meiji-Universität (auf Japanisch, eine dt. Version ist noch nicht publiziert). Wir hatten damals einen intensiven Mailwechsel und haben viel Material ausgetauscht. Dann war einige Jahre Ruhe, mein Dienstende, Corona…
Aber die Mailadresse stimmte noch und Thomas meldet sich erfreut über das Lebenszeichen zurück. Er arbeitet in Prag für das deutsche Fernsehen und ist mit einer Tschechin verheiratet. Nicht nur wegen der zufälligen Namensgleichheit hat er sich lange mit Ossip Schubin beschäftigt, vielleicht weil er auch ein Faible für Charaktere hat, die aus dem üblichen Rahmen fallen bzw. auch ihn die Frage umtreibt, wie kann jemand zu Lebzeiten Bestsellerautorin gewesen sein und nun völlig vergessen? Ja, die Vergessenen, die verbinden uns.
Wir verabredeten und passend zur Thematik nachmittags im Cafe Orient mit Jugendstil-Ambiente und kubistischen Törtchen. – Der Vorteil des Unruhestandes ist, dass ich endlich Menschen leibhaftig kennenlerne, mit denen ich schon seit Jahrzehnten virtuell in Kontakt bin (bei der Suzukazumi-Ausstellung im EKO-Haus in Düsseldorf habe ich Herrn Michael Kuhl auch zum ersten Mal persönlich getroffen, obwohl wir schon seit dem Jahr 2000 Ausstellungen ausgetauscht haben).

Manche Themen liegen auch einfach auf Eis, wenn sie nicht abgefragt werden. Hätte jemand ein Symposium veranstaltet über vergessene Autorinnen, hätten Thomas und ich dort auftreten können. Um das privat selbst zu organisieren, fehlten uns Muße und die nötigen Mittel.
Unser Treffen war eine echte Sternstunde, die Bälle flogen uns nur so hin und her. Wir hatten gar nicht gemerkt, dass es draußen bereits stockdunkel war und wir schon lange die einzigen Gäste – bis der Kellner uns darauf aufmerksam machte.
Wir tauschten unsere neuesten Erkenntnisse zu der Thematik aus, er zu seinen Prager und bibliophilen Recherchen, ich zu dem, was es in Japan inzwischen Neues gab zu Ossip Schubin und Ôgai – der bekanntlich fast zeitgleich mit der Abfassung seiner Berliner Novelle „Maihime/Das Ballettmädchen/Die Tänzerin“ (1890 erschienen) an der Übersetzung von Ossip Schubins „Geschichte eines Genies/Umoregi“ saß. Eine seiner frühesten Übersetzungen und einer der wenigen von insgesamt nur drei Autorinnen in seinem Oeuvre (neben Selma Lagerlöf z.B.).

Da wir beide grad im Kafka-Fieber waren, ploppte gesprächsweise ein Vergleich nach dem anderen auf. Am Ende waren wir uns sicher, dass Schubin (eigentlich Aloisia Kirschner) als leibhaftiger Gegenentwurf zu Kafka daherkommt.

Umso mehr freute ich mich, als ich am 8.10. eine Mail von Thomas erhielt. Er hatte Wort gehalten und meinen „energischen Prager Auftrag, die Schubin- und Kafka-Jubiläen nicht verstreichen zu lassen und endlich etwas mit dem Angesammelten zu machen“ umgesetzt und mir seine neueste Publikation zugesandt.

Trapná Kafkova teta – Ossip Schubin — Deník N
Der ausführliche Artikel erschien zu Schubins 170. Geburtstag am 17. Juni in der besten tschechischen Tageszeitung, sogar ungekürzt.
Da ich das Tschechische nicht lesen kann, hat Thomas mir eine deutsche Version mit dem Titel „Kafkas peinliche Tante“ zukommen lassen, die ich hiermit auf meiner HP vorstellen möchte für alle, die sich für Vergessene, für Ogai oder für die deutschsprachige Prager Literatur interessieren.

Kafkas peinliche Tante

Im Anschluss an die Begegnung mit Thomas Kirschner suchte ich am Folgetag (6.3.24) das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren auf und hatte ein längeres Gespräch mit dem Direktor David Stecher über die Rezeption der deutschsprachigen Prager Literaten in Japan, allen voran natürlich Franz Kafka.

Das Literaturhaus im Innenhof eines normalen Wohnhauses hatte für mich etwas von einer Insel für Bücherwürmer, ein Ort der Ruhe, des Lesens, über dem man sämtliche touristischen Pläne vergisst. Beeindruckt hat mich die Dauerausstellung, wo man auf engstem Raum, der noch dazu als Veranstaltungsraum genutzt wird, prägnant und haptisch viel Informationen über die einstige deutschsprachige Prager Literaturszene entdecken kann in einem ständigen Wechsel aus Information und Lektüre. Ich wäre gern noch länger geblieben. Doch der ICE wartete, die drei Tage in Prag waren wie ein Rausch, im Fluge vergangen.

Nun wird es Zeit, meine Schubin-Recherchen endlich auf deutsch zu Papier zu bringen.


Schubin-Akte im Literaturhaus Prag.


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