Mori-Ôgai-Gedenkstätte Berlin / ベルリン森鷗外記念館・ベアーテ・ヴォンデ

Guben – Shikoku

Um diesen Artikel wurde ich 2004 vom Deutschen Haus in Naruto gebeten, weiß aber nicht, ob er je und voller Länge erschienen ist.

Guben – Shikoku

Guben ist eine kleine Stadt im Osten Deutschlands mit inzwischen nur noch 24 000 Einwohnern südlich von Frankfurt an der Oder, direkt an der Grenze zu Polen gelegen. Früher nannte man Guben das “Heidelberg des Ostens”. Es war berühmt für den Weinanbau (ein Wein ähnlich dem Spätburgunder, den sich u.a. der russische Zar bestellte), später, als das Klima sich veränderte und die Reblaus die Weinstöcke vernichtete, baute man Apfelbäume an und produzierte Apfelwein. “Ihr Mädchen und ihr Buben, trinkt Apfelwein aus Guben”, war ein Spruch, den man vor dem II. WK in ganz Deutschland kannte. Guben hatte ein eigenes Theater, sogar einst eine Universität. Von den Weinbergen hatte man eine wunderbare Sicht auf die Landschaft. Viele Berliner reisten zur berühmten Apfelblüte nach Guben, ähnlich dem Sakura-mi in Japan. Was für Heidelberg der Neckar, ist für Guben die Neiße. Nur während der Neckar zwei deutsche Stadthälften von Heidelberg verbindet, ist Guben heute im Ergebnis des II. WK eine Grenzstadt und die Neiße ein Grenzfluss. Der östliche Teil der Stadt mit dem einstigen Zentrum und den einstigen Weinbergen gehört heute zu Polen und nur noch der westliche Teil ist deutsch. Die Familie meines Vaters stammt aus dem heutigen polnischen Teil. Mein Urgroßvater war der letzte Gubener Weinbauer. Im Juni 1945 musste die Familie innerhalb von 2 Stunden über eine kleine Holzbrücke in den westlichen Teil fliehen – oder Polen werden. Überhaupt war die Stadt nach den Kämpfen der letzten Kriegsmonate fast den Erdboden gleichgemacht, wie schon in früheren Jahrhunderten von den Hussiten. Nur die Klosterkirche und die Ruine der einstigen Haupt- und Stadtkirche erinnern noch an den einstigen Glanz dieser Stadt. Gubener haben Schlimmes erlebt und überlebt. Deshalb leben dort besonders starke Menschen. Diese Stärke brauchen sie auch. Denn nach der deutschen Einheit 1989 hat dort ein weiterer, aber stiller Krieg stattgefunden: die Industrie (früher war Guben für Tuchwebereien und die Hutproduktion berühmt, später in der DDR für Chemiefaserproduktion) lag lahm, seit die Ostexporte sich nicht mehr rechneten. Die Stadt hat eine Arbeitslosigkeit von etwa 30 % und kämpft im Zuge der EU-Osterweiterung um ihr Überleben. Die jungen Leute ziehen auf der Suche nach Arbeit weg. Aus EU-Mitteln wurde eine gemeinsame Kläranlage gebaut, die sich im polnischen Teil befindet. Der Alltag sieht heute so aus, dass die Gubener an der Grenze ihren Ausweis zeigen und ohne große Kontrollen in Polen alles einkaufen, was dort preiswerter ist: Benzin, Zigaretten, Obst und Gemüse, Fleisch. Wenn ich meine Mutter besuche, höre ich auf der Straße, in der ich einst das Roller fahren erlernte, Leute polnisch sprechen. Sie gehen im deutschen Teil bei Real, Aldi oder anderen Supermärkten einkaufen. Sammle ich mit meiner 85jährigen Mutter im Wald Pilze, höre ich im Wald polnische Stimmen, genauso, wie mir beim Schwimmen im Pinnower See Paare entgegenkommen, die polnisch sprechen. Das ist die Realität dieser Stadt heute.
Guben ist meine Heimatstadt. Und bis zum November 2004 war ich überzeugt, dass es zwischen meiner Heimatstadt und Japan keinerlei Beziehung gab, bis auf mich: ich habe dort das Abitur abgelegt und bin mit 18 mit Fernweh in der Brust nach Berlin gegangen, um an der Humboldt-Universität Japanologie zu studieren. Nach dem Studium war ich vom 1979-1981 an der Waseda-Universität. Seit 1984 betreue ich die Mori-Ogai-Gedenkstätte in Berlin. Im Sommer 2004 lernte ich dort Herrn Yuji Sano aus Tokushima kennen, der mit seinem Sohn nach Berlin gekommen war zu Recherchen über Robert Kochs (Ogais Lehrer in Berlin) japanische Haushälterin Hana. Zur gleichen Zeit hatte ich in Berlin Besuch von einem japanischen Künstler, Hachiro Kanno, den ich im Frühjahr in Paris kennengelernt hatte und der dort im Atelier von Picasso wohnt. Er war nach Berlin gekommen, um in Ruhe zu arbeiten. Gerade zu dieser Zeit lief im Radio in 46 Fortsetzungen eine Lesung von Murakami Harukis neuestem Bestseller “Umibe no Kafuka”. Jeden Abend hörten Kanno-san und ich die Fortsetzungen im Radio. Und so wie der Held des Romans Nakata-san unbedingt nach Shikoku wollte, ohne zu wissen warum und wozu das gut sei, wuchs in mir der Wunsch, bei nächster Gelegenheit nach Shikoku zu reisen. Mehr als 20 Jahre lang war ich inzwischen schon Japanologin, hatte in Japan studiert, aber ich war noch nie auf Shikoku. Sano’s waren so nett, mich einzuladen, und als ich dann im November 2004 eine Einladung an die Waseda-Universität zu einem Vortrag über den Giganten des japanischen Shingeki Senda Koreya erhielt, beschloss ich, länger in Japan zu bleiben und endlich, wie Nakata-san, nach Shikoku zu reisen. Der dienstliche Vorwand für die Verlängerung meines Aufenthaltes in Japan war die Besichtigung des Kompira-Tempels. Darüber hinaus interessierten mich die 88 Pilgerstätten (auf denen gerade eine Studentin von uns, Katjas Esser wandelt) und als Katzenliebhaberin natürlich Japans einziger Katzentempel in Anan-shi. Der Katzen-Tempel befand sich im selben Ort, an dem Herr Masato Fujii als Arzt gewirkt hat, dem wir die Kupfertafel mit Ogais Testament verdanken, die im Flur der Berliner Gedenkstätte hängt. Ein merkwürdiges, sich selbst fortschreibendes Netzwerk….
Über meine kurze Reise durch Shikoku, die für mich dank Ikawa-kumon der Daio-Seishi-Corp. und Familie Sano zu einem unvergesslichen Erlebnis wurde, gäbe es sehr viel zu berichten. Hier soll heute lediglich die Rede davon sein, welche Beziehungen ich zwischen Shikoku und meiner Heimatstadt Guben entdeckt habe.
Bis vor einem Jahr, war ich überzeugt davon, dass es bislang keine Beziehungen zwischen Guben und Japan geben hat. Vor zwei Jahren erhielt ich einen Anruf vom Stadtarchiv in Guben (über den Bruder eines Schulfreundes), dass ein japanischer Historiker auf der Suche nach der Identität von Otto Hannasky sei, der im Lager Bandou als Fleischer gearbeitet habe und den Leuten der Umgebung von Badou die deutsche Art zu schlachten beigebracht habe. Die Insassen des Lagers sollen eine Ausstellung gezeigt haben, bei der auch Otto Hannasky einen Stand mit Fleischprodukten gehabt haben soll. Die Ausstellung wurde damals von 50 0000 Leuten besucht. Was mag er dort gezeigt haben? So wie Shikoku heute für sein Wagyû berühmt ist, stehen noch heute im Winter die Leute in Guben frühmorgens Schlange, um frische Grützwurst, Leberwurst oder Wellfleisch vom Schlächter zukaufen. Es ist eine lokale Tradition, die sich gehalten hat, obwohl man in den Supermärkten preiswertes Fleisch aus aller Herren Länder kaufen kann.
Ein Gubener in Japan? Das machte mich neugierig. Im Stadtarchiv wusste man anhand der alten Adressbücher nicht viel mehr, als dass unter der in Bandou angegebenen Adresse (Kottbuser Str. 1a) eine Agnes Hannasky, geschiedene Fleischermeisterin gewohnt hat. Also nutzte ich den Japan-Aufenthalt, um das Doitsu-kan in Naruto zu besichtigen. Herr … , der Leiter und seine Mitarbeiter, waren sehr freundlich und kooperativ, führten mich durch das Museum und gaben mir Material und Fotos mit auf den Weg.
Nach der Rückkehr war ich sehr beschäftigt, doch im April hatte ich endlich einen längeren Artikel über meine Erkundungen in Bandou fertiggestellt. Ende Juli bis Ende August 2005 wurde er in drei Fortsetzungen im “Neisse-Echo”, der Lokalzeitung veröffentlicht mit der Frage: “Wer weiß etwas über Otto Hannasky, den Fleischermeister von Bandou?”
Bereits als der erste Teil des Artikels erschienen war, rief mich Frau Evelin Richter, die Stadtarchivarin, an und teilte mir begeistert mit, dass der Neffe von Otto, Werner Hannasky sie angerufen hätte. Er hat Otto auf den Fotos identifiziert und Auskunft gegeben über sein Leben nach Bandou.
Am 27. August habe ich Werner Hannasky in Guben besucht. Er ist ein Kollege meiner Mutter, beide hatten früher, als ich Kind war, Gemüseläden in Guben. Eine unverhoffte Wiederbegegnung. Über Otto Hannasky, der die deutsche Art zu schlachten in Shikoku vorgestellt hatte, erfuhr ich von ihm Folgendes: Otto Hannasky ist nach Bandou nicht nach Guben zurückgekehrt. Er war bereits von seiner ersten Frau Agnes geschieden, als er in Bandou war. Er ist nach der Rückkehr nach Deutschland nach Berlin gegangen, hat dort wieder geheiratet und eine kleine Gärtnerei betrieben, bis er,… starb. Sein Sohn aus zweiter Ehe, lebt heute als über 80jähriger in Berlin, hat aber alle Unterlagen seines Vaters vernichtet, weiß nichts von den herzlichen Beziehungen, die einst zwischen den Einwohnern der Gegend um Bandou und den deutschen Gefangenen bestanden.
Auf meine Artikel hin habe ich von Gubenern viel positive Reaktionen erhalten, u.a. von meiner alten Grundschullehrerin. In Guben ist man stolz darauf, dass es so gute fruchtbringende Beziehungen zu Shikoku/Japan gegeben hat. “Die Welt ist doch ein Dorf”, möchte man sagen, und das war es offenbar schon vor den heutigen Zeiten der Globaliserung.
Ich habe mich immer für den ersten “Exoten” gehalten, der von Guben aus seinen Blick nach Japan gerichtet hat. Heute weiß ich, ich bin nur Teil eines langen Beziehungsgeflechtes zwischen Japan und Deutschland. Ich wollte immer über Ogai oder wie Ogai eine kakehashi sein zwischen beiden Ländern und hatte keine Ahnung, dass es lange vor mir enge Beziehungen an meinem unmittelbaren Wurzeln gegeben hat. Wie auch immer, ich bin voller Dankbarkeit, wenn ich an Shikoku denke, nicht nur wegen der herzlichen Aufnahme, die ich dort gefunden habe, sondern vor allem, weil ich über den Umweg Japan etwas gelernt habe, was ich so nicht für möglich gehalten hätte: Heimatliebe, Verbundensein.

Beate Weber


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