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IKEZAWA Natsuki: Ende und Anfang

Aus der Asahi-Zeitung vom 9. April 2011
Kolumne von Natsuki Ikezawa (Schriftsteller)
(Im bebra-Verlag ist sein Roman „Aufstieg und Fall des Macias Guili“ erschienen)

Ende und Anfang

– Ein wirkliches „Ende und Anfang“

Ich verzeihe dem Frühling
(Jap. wörtlich: Ich bedauere den Frühling nicht.)

Vor zwei Jahren, zu Beginn dieser Kolumne, habe ich hin und her überlegt, welchen Titel ich ihr geben könne und mich schließlich entschlossen, mir aus einem Gedicht der polnischen Dichterin Szymborska eine Zeile zu leihen: „Ende und Anfang.“
Damals hätte ich nie gedacht, dass dieser Titel eines Tages dermaßen zutreffen würde. Normalerweise verändert sich alles langsam, man ist sich nicht eindeutig bewusst, wann etwas anfängt oder endet.
Dennoch sind drastische Umschwünge nicht völlig ausgeschlossen. Ich weiß nicht, ob ich es als Glück bezeichnen kann, jedenfalls war der 11.09. weit weg von Japan und der Krieg im Irak vom 20.03.2003 war noch viel weiter entfernt.
Aber der 11.03.2011 hat sich in Japan ereignet. Der 11.03. wurde unser Datum. Irgendetwas ist vollständig zu Ende gegangen und völlig andere Tage fangen an.
Ehrlich gesagt, ich habe keine Worte, mit denen ich über dieses Ereignis sprechen könnte.
Was kann man sagen über die Lage vor Ort, über die Leiden der Menschen, die in Notunterkünften leben oder über die Bemühungen derjenigen, die ihr Leben riskieren und versuchen, das rasende Atomkraftwerk zur Ruhe zu bringen?
Im mir selbst kommen und gehen verschiedensten Worte. Aber das alles ist nicht unbedingt dazu da ausgesprochen zu werden. Das habe ich während der Anfangsphase erkannt. Ich habe es mir zum Prinzip gemacht, „nicht vorzuwerfen“ und „nicht aufzuheizen“.
Sicherlich Tepco und der Regierung würden wir alle gern so Einiges sagen. Aber sie sind diejenigen, die tatsächlich vor Ort sind, und selbst wenn sie ungeschickt und verwirrt aussehen, können wir jetzt nicht anders, als ihnen vertrauen. Denn wir sind nämlich diejenigen, die sie vor diesem Ereignis gewählt haben.
In Japan gibt es momentan niemanden, der außerhalb der Verantwortung für dieses Ereignis steht. Wir alle haben bei der Wahl die Abgeordneten gewählt und haben bisher den Strom der AKW benutzt (außer auf Okinawa und einzelnen entfernten Inseln). Auch selbst wenn sich jemand gegen die Atomkraft aussprach, gab es niemanden, der sein Haus ausschließlich mit eigenem Strom versorgte.

Ich möchte von meiner persönlichen Erfahrung berichten.
Am Anfang habe ich oft geweint. Ich weinte vor dem Foto mit dem alten Mann, der vor einer Ruine sprachlos weint. Obwohl ich bei der Trauerfeier für meinem Cousin kurz nach dem Erdbeben nicht weinen konnte, habe ich am Tag danach geweint, als ich die Braut, die Tochter eines guten Freundes, in ihrem Hochzeitskleid sah. Und ich habe geweint beim Lesen des Blogs eines Krankenpflegers, der sich an einen der betroffenen Orte begeben hat und dort hilft.
Ich habe eine alte Tante. Sie und ihr Mann wohnen in Sendai. Sie sind in einem Haus untergebracht, wo man sich um die Alten kümmert. Direkt nach dem Erdbeben habe ich eine Nachricht von ihnen erhalten, dass es keinen größeren Schaden gab, außer dass Sachen vom Regal heruntergefallen und kaputt gegangen sind. Danach Schweigen. Es war hart für mich, als ich sie über 60 Stunden lang nicht erreichen konnte, nur das Besetztzeichen, während sich mehrere starke Nachbeben ereigneten.
Endlich wurde die Festnetzverbindung wieder hergestellt und ich erfuhr, dass ihnen nichts passiert war. Sie hatten Stromausfall, es sei sehr kalt und es gäbe wenig zu Essen. Sie könnten nichts weiter tun, als in Decken gehüllt Radio hören.
Am 24.03, als ich zufällig in Tokyo war, erfuhr ich, dass es Fortschritte bei der Reparatur der Straßen gäbe und die Omnibusse wieder fahren. Ich ging sofort in den unteren Bereich des Kaufhauses, wo man Lebensmittel kaufen kann. Dort habe ich viel Reis, Wurzelgemüse oder Retorten-Nahrung eingepackt.
Um 9.30 Uhr am nächsten Morgen bin ich mit dem Bus von Shinjuku aus nach Sendai abgefahren. Vor der Gegend um Nasu gab es häufig Baustellen auf Straßen, die durch Erdbeben beschädigt worden waren. Der Bus wackelte zuweilen mächtig, aber nach 6 Stunden kamen wir in Sendai an. Unterwegs habe ich viele Häuser gesehen, deren Dächer mit blauen Planen und Sandsäcken provisorisch repariert waren.
In der Stadt Sendai fuhren noch Taxis, aber die Mehrzahl der 24-Stunden-Läden nicht und auch die meisten Restaurants waren geschlossen. Es gab Leute, die vor den Läden „Rinderzungengrill-Bentô (*Übersetzer: gegrillte Rinderzunge ist ein typisches Essen in Sendai)“ verkauften. Vor der Tankstelle eine lange, lange Wagenkarawane. Soweit ungefähr war der Wiederaufbau vorangeschritten.
Ich konnte meine Tante und ihren Mann überzeugen, mit zu mir nach Sapporo zu kommen. Die Lebensmittel, die ich mitgebracht hatte, ließ ich in der Kantine der Altenunterkunft. Am folgenden Tag sind wir mit dem Bus zunächst nach Aomori aufgebrochen, haben durch den Tunnel unter dem Meer auf die Insel Hokkaido übergesetzt, eine Nacht in Hakodate übernachtet und sind dann in Sapporo eingetroffen.
Im Fernseher sieht man viele Leute bei der Arbeit. Das scheint wohl eine Grundhaltung in Japan zu sein. Jeder versucht das zu tun, was an Arbeit vor ihm liegt und was er kann. Ein Mitgefühl wie in dem Lied von Nakajima Miyuki „Stern auf der Erde“.
Nach der Erdbeben-Manie kommt die Erdbeben-Depression. Das beste Medikament ist, sich zu bewegen und etwas zu tun. Ein Freund von mir hat seinem Freund, der in Tohoku eine kleine Firma hat, eine unglaubliche Menge von Trostgütern geschickt. Fleisch, Gemüse für eine Mahlzeit, Zeitschriften und Zigaretten für die ganze Mitarbeiterschaft und ihre Familien.

Wenn ich von künftig über dieses Ereignis spreche, werden wir arm sein. Das ist offensichtlich. Die gerechte Verteilung der Armut ist Pflicht der Regierung.
Meine Tante erzählte mir, die Atmosphäre wäre ähnlich der nach dem Krieg (nicht so wie während des Krieges. Wir haben nicht getötet, sondern wurden ausschließlich getötet, wir haben nicht zerstört, sondern wurden zerstört). Eine zehn Jahre andauernde Wiederaufbauzeit hat begonnen.

Ich verzeihe dem Frühling,
Dass er wieder gekommen ist.
Ich zürne ihm nicht,
Dass er wie alle Jahre
Seine Pflicht tut.

So sagt Szymborska

Ich weiß, meine Trauer
Hält das Grün nicht auf.

So ein Frühling ist das.

(Übersetzt von Karin Nagao und Beate Wonde)


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