Mori-Ôgai-Gedenkstätte Berlin / ベルリン森鷗外記念館・ベアーテ・ヴォンデ

„Dem Volk aufs Maul geschaut“

Über Sprachschöpfungen und die Mühen der Aktualisierung von Wörterbüchern in Japan

7. Juli (Tabata) 2015, 18 Uhr Mori-Ôgai-Gedenkstätte

Flyer 7

Erläuterungen zum Dokumentarfilm:

辞書を編む人たち / Jisho wo amu hitotachi /
Menschen die ein Wörterbuch editieren

ETV 特集, NHK 2014

Ausgangsfrage: „Welches Buch würden Sie auf eine unbewohnte Insel mitnehmen?“

Etwa 120 Jahre nach dem Erscheinen des ersten Wörterbuches der japanischen Sprache (Kokugo Jiten 国語辞典) dokumentiert das NHK Bildungsprogramm “Jisho wo amu hitotachi – Menschen, die ein Wörterbuch editieren“ die akribische Arbeit einer Wörterbuchsrevision bei dem Verlag Sanseidô.
Ein Wörterbuch redigieren heißt, sich in einem riesigen Wörter-Urwald auf die Suche nach Begriffen zu machen, die ständig neu entstehen und wieder verschwinden. Es ist eine kontinuierliche, nie endende Arbeit, die hier von einem TV-Team ein halbes Jahr lang beobachtet wurde.

Erster Schritt: Yôrei Saishû (用例採集) – Wörter sammeln

Yamamoto-San, der Chefredakteur von Daijirin (大辞林 – Großer Wald der Wörter bzw. Begriffe) hat immer ein Notizbuch bei sich, in das er unterwegs all die noch nicht erfassten Wörter einträgt oder mit dem Handy fotografisch belegt: Er wird fündig in der U-Bahn, beim Essen in Internetforen und bei Twitter.

Der Verlag Sanseidô (三省堂) wurde im Jahr Meiji 14 (1881; das Jahr, in dem Mori Ôgai sein Medizin-Studium abschloss und leider nicht sofort nach Deutschland gehen konnte.) gegründet und ist spezialisiert auf Wörterbücher und Lehrbücher. Mehr als 242 Wörterbücher (Kokugo-Jiten, Gogen-Jiten/Etymologisches Wörterbuch) hat er bereits herausgegeben. Dabei ist Daijirin das Wörterbuch der japanischen Sprache mit der größten Anzahl von Einträgen (238.000 Wörter).
Eine regelmäßige Aktualisierung ist notwendig für das Überleben der Wörterbücher. Ohne ständige Neubearbeitung ist ein Wörterbuch so gut wie tot/unnütz (1988: Veröffentlichung der ersten Auflage; 2006: dritte Fassung – im Film sieht man Arbeit an der vierten Fassung).

Das Prinzip von Daijirin ist, gendaigo (現代語 – Gegenwartsvokabular) und sogenannte ikita kotoaba(生きた言葉 – lebende Wörter) aufzunehmen.
So wurde z.B. 1988 „ヤバイ“ (yabai) aufgenommen – damals noch mit der negativen Bedeutung „gefährlich“. Es stammt ursprünglich aus dem Diebes-Jargon der Edo-Zeit, ist die Abkürzung von abunai und wurde nur von Männer benutzt: nicht zu schaffen, schlecht, unangenehm, kritisch, dubios. In den 1980ern stand es in der Jugendsprache noch für „uncool“. 2006 dann der Bedeutungswandel: man fügte eine neue Wertung des Wortes in der Worterklärung hinzu im Sinne von umgangssprachlich sugoi (若者言葉で、すごい、の意); also toll/lässig, super, kultig, geil. Dies ist ähnlich wie z.B. „schrecklich“ im Deutschen – ursprünglich negativ, jetzt als positive Verstärkung: schrecklich schön.
Viele andere Begriffe wie NEET (ニート) – junger Mensch, der keine Arbeit und Ausbildung hat (kommt aus dem Englischen: not in employment, education or training), kaomoji (顔文字 – EMOTICON wie bspw. Smiley – große Vielfalt; in Mails, SMS etc. verwendet)、kanryû (韓流 – Begriffe aus südkoreanischer Popmusik oder TV-Drama, die sich durch Medien und Idole verbreiten) wurden ebenfalls aufgenommen.

Das größte Problem bei der Bearbeitung ist: wie geht man mit der Abweichung vom Standard, dem quasi „falschen“ Gebrauch der Wörter um, denn auch wenn ein Gebrauch zunächst falsch ist, wird er mit der Zeit „korrekt“, sobald diese Anwendung von der Mehrheit akzeptiert ist. Ein Beispiel, wie sich „fälschlicher“ Gebrauch eingebürgert hat:

取り付く島がない(toritsuku shima ga nai): hilflos sein – man ist in der Mitte des Meeres und es gibt keine Insel, um Pause zu machen. Aus dieser Standardformulierung entwickelte sich zunächst als Wortspiel wegen ähnlicher Lautung:   
     
取り付く暇がない (toritsuku hima ga nai – man ist so beschäftigt, dass man überhaupt keine Freizeit/Ruhe mehr hat.

Die Editoren diskutieren im Film noch, ob es sich bereits um einen allgemeinen Gebrauch handelt und sie die neue Verwendung ebenfalls aufnehmen sollen.

Es wird eine Praktikantin vorgestellt, Ishizuka-san (weiblich), 26 jahre alt. Promoventin für Japanische Sprache an der Tsukuba Universität. Sie will während ihres Praktikums am Verlag (3 Monate) neue Wörter finden, die in die neue Ausgabe des Daijirin kommen.
z.B. キンキンに冷えたビール(kinkin ni hieta biiru – onomatopoetisch): sehr kalt, eiskalt; aber nur für Getränke. Wenn man sehr Kaltes trinkt, dann fühlt sich das „kin“ an, als ob alles in der Kehle erstarrt. Der Begriff kinkin ist noch nicht im Kôjien (広辞苑) zu finden – dem großen Konkurrenten von Daijirin.

Ishizuka-san sucht vor allem in Frauenzeitschriften nach neuen Begriffen, denn dort werden ständig neue Wörter geboren. Sie kauft Frauenzeitschriften aller Kategorien von gyaru-kei (mit viel Schminke; Transliteration von engl. gal; junge Frauen eines gal-spezifischen Modetyps z.B. aus Shibuya), aomoji-kei (alternativ, individuell, kreativ, Alltagskleidung/casual fashion; Gegenbegriff zu akamoji-kei: auffällig, attraktiv, viel Schminke); harajuku-kei (eher mädchenhaft, pink, Zöpfe). Sie stieß in 3 Tagen auf 181 neue Begriffe, die dann in der Redaktionssitzung geprüft werden, ob sie in die Neuauflage aufgenommen werden oder nicht.

Weitere Beispiele:

ストカジ (sutokaji = street casual – hipp-hopp-artige Mode)、

ユルキャリ / ゆるいキャリア (yurui career)
Man arbeitet gerade als Frau in Japan viel; kümmert man sich nur um die eigene Karriere, ist man eigentlich ein Streber – macht „harte“ Karriere かたいキャリア.
Yurui career dagegen bedeutet etwas lockerer Karriere zu machen.

ダテメ (dateme= date megane – Brille, die nicht echt ist, aber vor allem auffällig)
Der Begriff stammt von Date Masamu (Daimyô/Fürst von Sendai), der in der Edo-Zeit sehr auffällig gut gekleidet herumlief.

エッジの効いた (Ejji no kiita)
Die Praktikantin hat über 3 Monate gebraucht, um den Begriff zu erklären: In der Mode- und Musikwelt bestimmte Akzente setzen/unterstreichen; Neuheit/Innovation, die durch Akzentuierung entsteht; laut Wadoku: „aufkanten“ – oder auch „aufpeppen“.

盛る (moru oder ôgesani yaru/iu – übertrieben, Übertreibung: Beate wa hanashi wo motteru – Beate übertreibt immer, wenn sie etwas erzählt. Oder Gyaru wa kami wo motteru – die Shibuya-girls haben übertriebene Frisuren).

Zweiter Schritt: Midashigo-Sentei (見出し語選定) – Selektion der Wörter

Ergebnis der Redaktions-Sitzung ist: 30 bis 40 Prozent der vorgeschlagene Wörter sind bloße Abkürzungen von bereits Bekannten, z.B. dateme als Abkürzung von date megane. Wichtig ist, dass man erkennt, ob ein Wort nur ephemer ist oder nicht. Bei weitem nicht alle Begriffe, die noch nicht in Wörterbüchern erfasst sind, sind einen Eintrag wert.
Nur 18 von den 181 Begriffen werden in der Sitzung akzeptiert (u.a. moru und ejji wo kiita).

Die erste Ausgabe des Daijirin wurde im Jahr 1960 geplant, aber aus Geldmangel erst in 1988 veröffentlicht. Als es endlich erschien, wurde das Daijirin ein Hit, denn es hat die größte Anzahl an eingetragenen Wörtern bzw. Begriffen. Das Redaktionsteam hat in der zweiten und dritten Fassung immer wieder versucht, die Zahl der Wörter zu erhöhen.
Bei der dritten Auflage im 2006 stellte sich heraus: Das praktische Limit der Buchbindung war erreicht; zu viele Einträge, zu viele Seiten.
Trotz der umfassenden Wortanzahl war das Daijirin in letzter Zeit kein großer Verkaufs-Erfolg mehr, weil zunehmend digitale Wörterbücher auf den Markt kommen. Internetwörterbücher haben nicht unbedeutende Vorteile: Schnelligkeit, keine Begrenzung der Einträge und Portabilität.
Auch für das Daijirin wurde eine App-Version für Smartphones entwickelt, die jetzt sehr erfolgreich ist. Mehr als 100,000 User hatten die Daijirin-App im Jahr 2014. Eine digitale Version hat auch für das Redaktionsteam Vorteile: schnellere und leichtere Bearbeitung, keine Limitierung der Wortzahl. Monatlich wird die App um ca. 100 neue Einträge erweitert!!!
Das größte Problem ist aber nach wie vor: wie findet man neue Wörter und wie unterscheidet man, ob ein Wort überlebt oder nicht.

Der Vorstand des Verlages fordert, dass Yamamoto und sein Team ein neues Konzept erarbeiten, ob man überhaupt noch Papierformate publizieren solle.

Dritter Schritt: Goshaku-Kaki (語釈書き) – Worterklärungen definieren
Goshaku-Kaki ist die schwierigste Arbeit. Auch SprachforscherInnen werden einbezogen.

Die Praktikantin Ishizuka-San kreierte ihre Definitionen für エッジ und盛る, die aber abgelehnt wurden mit der Begründung: zu lang; nicht objektiv. Ein Wörterbuch muss immer kompakte und möglichst objektive Erklärungen anbieten.
Ihre Praktikumszeit läuft schließlich ab, aber sie will weiter im Team jobben (Arubaito).
Nach mehrmaligen Vorschlägen wurden auf Japanisch endlich folgende Definitionen akzeptiert:

エッジ
(主にファッションや音楽などで)
ある要素を強調することで生まれる、斬新さやめりはり。
「—のきいた服」「—をきかせたサウンド」「—の立った曲」

盛る
(化粧や装飾、話などで)
俗に、過剰に物事を行ったり、大げさにする。
「髪を—」「話を—」

Es folgt wieder eine Szene der Vorstandsitzung zum Thema: Welche Bedeutung haben Papierformate in einer Zeit, die Schnelligkeit, Leichtigkeit fordert? Bisher war für den Verlag das Papierformat das Hauptgeschäft; jetzt ist es nur noch ein Subformat, das sich schlecht verkauft.
Herr Yamamoto erklärt, dass die Papierformate von der Bevölkerung leider nicht mehr in erforderlichem Maße unterstützt werden. Daijirin muss deswegen seine digitale Version als Mainversion/Hauptgeschäft positionieren und die Papierformate als Subversion/Teilbereich. Die Papierformate existieren noch für „Fans“, sie müssen ihre hohe Qualität als Wörterbuch für die treuen Anhänger bewahren. Deshalb gibt es noch einmal die neueste Überarbeitung in gedruckter Version, obwohl der Verkauf rückläufig ist.
Generell bedeutet das eine große Veränderung für das Business-Modell der Wörterbuch-Verlage im digitalen Zeitalter. Daijirin möchte der erste Verlag sein, der diesen Perspektivwechsel einläutet.

Schließlich erscheint eine Einblende von Ishizuka-san: Mit der bei Sanseidô gesammelten Erfahrung will sich die Praktikantin vor allem bei Verlagen bewerben, die auf Wörterbücher spezialisiert sind.
Ihr Credo:

「辞書は言葉の海。そこを泳ぎきってみたい。泳ぎきれるのならば」
(Jisho wa kotoba no umi, soko wo oyogi kitte mitai.)
„Ein Wörterbuch ist ein Meer von Wörtern. Das würde ich gern durchschwimmen, wenn ich könnte.“

Die Doku endet wieder mit der am Anfang gestellten Frage: „Welches Buch würden Sie auf eine unbewohnte Insel mitnehmen?“

Wörterbücher stellen einen Mikrokosmos dar, der eine Welt ausschließlich mit Worten beschreibt.

Tanabata 7.7.2015 Beate Wonde


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