Gedanken zu 200 Jahren Humboldt/Berliner-Universität und Meiji-Japan
für Jahrestreffen der JSPS-Alumni an der Technischen Hochschule Berlin
Gedanken zu 200 Jahren Humboldt-Universität und Meiji-Japan
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
mir kommt heute die Aufgabe zu, Ihnen etwas über eine altehrwürdige 200jährige Dame und ihre Verbindungen nach Japan zu berichten. Die Berliner Universität (oder auch: Alma Mater Berolinensis) wurde am 16. August 1809 auf Initiative des liberalen preußischen Bildungsreformers und Sprachwissenschaftlers Wilhelm von Humboldt gegründet und nahm 1810 ihren Lehrbetrieb auf. Von 1828 bis 1946 führte sie den Namen Friedrich-Wilhelms-Universität, zu Ehren ihres Gründers, des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III.
Unter dem Namen Humboldt-Universität hätte sie in diesem Jahr erst ihren 60. Geburtstag, denn den trägt sie erst seit 1949 (in den Jahren 1946-49 hieß sie wie in den Anfangsjahren Berliner Universität). Nach japanischem Brauch müsste Frau Humboldt zum 60. eigentlich eine rote Weste, ein „chachanko“ anlegen. Ich weiß nicht inwieweit Ihnen dieser Brauch geläufig ist, aber hoffen wir einmal, dass sich die Humboldt-Universität zwar immer wieder verjüngt und erneuert, aber nicht wie im Menschenleben ab 60 angeblich langsam in die Babyzeit zurück entwickelt. Sie merken schon, noch ehe ich mit meinen Ausführungen beginnen kann, sind wir mitten in der Sprachverwirrung. Denn unter dem alten Namen gibt es diese Universität schon lange nicht mehr, unter dem aktuellen ist sie noch nicht einmal rentenfähig. Es sind also Behelfslösungen nötig. In Ihrem Jubiläumsjahr präsentiert sich meine Universität deshalb als „Das moderne Original“, welches Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellen möchte, bei Beibehaltung der wichtigsten Prämissen, unter denen Wilhelm von Humboldt diese Universität vor 200 Jahren gegründet hat: nämlich die enge Verbindung von Forschung und Lehre, freie Wissenschaft um ihrer selbst Willen und Persönlichkeitsformung.
In der neuen Ausgabe der Zeitung HUMBOLDT heißt das heute: Unabhängigkeit, Bildung, Freiheit, Verantwortung, Wissenschaft und Zukunft. Sie werden sehen, dass diese Prämissen sehr viel mit dem zu tun haben, was als das Besondere dieser Universität bereits im Meiji-zeitlichen Japan geschätzt und übermittelt wurde.
Aus aktuellem Anlass möchte ich kurz einflechten, dass am 12. Oktober im Konzerthaus am Gendarmenmarkt die Auftaktveranstaltung des 15 Monate andauernden Jubiläumsjahres stattgefunden hat. Mittags wurde „Kunst im Foyer“ eingeweiht: eine Installation, die das dortige Zitat von Karl Marx – die 11. Feuerbachthese – neu kontextualisiert. Das Studentenwerk Berlin schenkte eine Geburtstagstorte und um 17 Uhr wurde dann das des Akademische Jahr mit der feierlichen Immatrikulation eröffnet.
Das, worüber sich die Humboldtianer nach längeren Bauarbeiten aber am meisten freuen, ist, dass die Universitätsbibliothek eine neue Heimstatt gefunden hat. Pünktlich zum Semesterbeginn wurde die nun „Jacob und Wilhelm-Grimm-Zentrum“ genannte neue Bibliothek in der Sophie-Scholl–Str. 1-3 in Betrieb genommen (3 Minuten vom HG entfernt). Gerüchten zufolge läuft die Ausleihe noch nicht so, wie man es in den Tageszeitungen von der modernsten Bibliothek Europas berichtet, doch alle Leseplätze sind täglich voll besetzt – und das hoffentlich nicht nur wegen des plötzlichen Wintereinbruchs.
200 Jahre alt wird also im nächsten Jahr „Das Moderne Original“. In Japan ist diese Universität einfach als „Berurin daigaku“, also Berliner Universität bekannt.
Sie steht im kollektiven Bewusstsein Japans deshalb in so gutem Ruf, weil in der Meiji-Zeit, genau genommen von 1870 bis 1914, also bis zum Ausbruch des I. Weltkrieges, durch den alle wiss. Kontakte vorübergehend abbrachen, allein 747 „ryûgakusei“, also jap. mehr oder weniger postgraduale Studenten hier ein Wissen erworben haben, mit dem sie nach ihrer Rückkehr in ihr Heimatland zumeist auf bedeutenden Posten die Modernisierung Japans vorantrieben.
Welch hohen Rang die Berliner Universität im wiss. Austausch mit Japan einnahm verdeutlicht ein Vergleich wohl am besten: wenn man zu den genannten 747 Studierenden aus Japan noch die 172 an der erst 1887/88 gegründeten Königlich-Technischen Hochschule (auf deren Boden wir uns hier befinden) hinzuzählt, dann kommt man sogar auf 919 „Berliner Japaner“. Den zweiten Rang nimmt München ein, die Königl.-Bayerische Ludwig-Maximilians-Universität München mit allerdings nur 275 jap. Studenten und 17 an der dortigen Technischen Hochschule. An dritter Stelle steht die Leipziger Universität, die in diesem Jahr bereits 600 Jahre besteht, mit 157 jap. Studenten. Wenn Sie an weiteren Vergleichszahlen und Informationen über Japaner an Ihrer Herkunftsuniversität interessiert sind einschließlich einstiger Promotionsthemen, dann empfehle ich diese verdienstvolle Auflistung aller bis zum 1. WK in Deutschland studierenden Japaner meines Kollegen Dr. Rudolf Hartmann, die ausschließlich über die MOG zu beziehen ist und die ja morgen auf dem Plan unsres gemeinsamen Stadtrundganges steht.
Hier in Berlin erhielt also der überwiegende Teil der geistigen Elite und des Beamtennachwuchses des modernen Japan seine Ausbildung.
Satô Susumu, der als erster Japaner in Deutschland überhaupt 1874 eine Promotionsschrift vorlegte und zwar „Über Durchfälle bei Kindern“ von 32 Seiten, gehörte mit Hagiwara Sankei und Aoki Shûzô nicht nur zu den ersten im Immatrikulationsverzeichnis der Berliner Uni eingeschriebenen jap. Studenten, sie „zählten zweifellos zu den …ersten Orientalen überhaupt, die eine deutsche Universität besuchten.“ (Hartmann)
Aoki Shûzô hatte die Absicht, hier sein in Japan begonnenes Medizinstudium fortzusetzen, entschied sich dann aber für Jura unter Rudolf von Gneist und spielte später für die dt.-jap. Beziehungen eine entscheidende Rolle als mehrfacher Botschafter in Deutschland und zweimaliger Außenminister. Er verkörpert in seiner Person die beiden bei Japanern bevorzugten Hauptstudienrichtungen, nämlich Rechts- und Staatswissenschaften sowie Medizin. Letzteres ist auf das internationale Renommé der Charite zurückzuführen (auch hier ein runder Geburtstag, die Charite wird nächstes Jahr 300). Allein an der Charite studierten bis 1914 308 Japaner. Die Liste dieser Studenten einschließlich meines spiritus loci Mori Ogai, heute als Dichterfürst und Mitbegründer der modernen japanischen Literatur in Japan verehrt, liest sich wie ein „Who is who in Japan“: Da haben wir u.a. Ogata Masanori und Kitasato Shibasaburo, die Begründer der Bakteriologie in Japan, den Krebsforscher Yamagiwa Katsusaburô oder Kataama Kuniyoshi, der später das erste gerichtsmedizinische Institut in Japan gründete wie Miura Moriharu (ein Schüler Vichows) das erste pathologische Institut. Kure Shûzô führte die Neurologie in Japan ein. Mita Sadanori gilt als Begründer der Serologie und Nagai Nagayoshi als Begründer der wiss. Pharmazie in Japan.
Die MOG, an der ich seit ihrer Gründung vor 25 Jahren arbeite (noch ein Jubliäum, dienstl. Silberhochzeit!) ist nebenbei eine Art Pilgerstätte und Anlaufpunkt für all die Enkel und Urenkel dieser einstigen Vorreiter, so eine Art jap. Traditionskabinett für Reisende aus Fernost auf der Suche nach ihren Wurzeln. Insofern bin ich in meiner täglichen Arbeit häufig mit unseren Vorreitern im wissenschaftlichen Austausch zwischen Japan und Deutschland und ihren noch nachweisbaren Spuren befasst.
Übrigens haben wir gleich nach den letzten Wahlen in Japan entdeckt, dass auch ein Großonkel des jetzigen Ministerpräsidenten zu unseren „Alumni“ zählt. Hatoyama Hideo nämlich hat 1913/14 hier Jura studiert.
In der langen Liste der jap. Studierenden an der Berliner Universität finden sich desweiteren 25 spätere Rektoren von Universitäten, 3 Präsidenten des Gakushuin, der Bildungseinrichtung des Kaiserhauses, 16 Kabinettsmitglieder, 2 Minister des kaiserlichen Hofes, 4 Präsidenten des Geheimen Staatsrates/Sumitsuin, 2 Präsidenten des Unterhauses/Shûgiin. Wohlbemerkt, allein bis 1914. Danach wird die Liste schier unübersichtlich.
Ich will Sie mit diesen Aufzählungen nicht langweilen, denn wie Sie nur allzu gut wissen, sind diese sicher unvergleichlichen Traditionen in der heutigen Zeit kein Garant für was auch immer. Sie müssen immer wieder in die Gegenwart übersetzt und mit Leben erfüllt werden, als polemisches Ruhekissen sind sie wertlos. Man kann aber davon ausgehen, dass der historisch gute Ruf dieser Universität in Japan, wo sich Ergebnisse von deutschen Exzellenzwettbewerben nicht so schnell verbreiten und das traditionelle Universitäts-Ranking eine weitaus größere Rolle spielt als bei uns, noch unbeschädigt ist und bei Japanern nach wie vor wie eine grüne Ampel wirkt.
Während sich also als erstem zahlenmäßigen Höhepunkt in den 1880er Jahren Scharen von jap. Studenten an der Berliner Uni immatrikulierten, wurde parallel dazu 1887 das Seminar für Orientalische Sprachen, das sog. SOS gegründet. Unter der Leitung von Prof. Rudolf Lange und mit Unterstützung von Sprachlehrern wie dem späteren bekannten Philosophen Inoue Tetsujiro und dem Märchendichter und Übersetzer Iwaya Sasanami wurde hier eine Wiege der Japan-Studien in Deutschland gelegt, wenngleich es am Anfang mehr darum ging, Fachleute sprachlich und landeskundlich auf einen Japan-Aufenthalt vorzubereiten – es handelte sich also um ein Institut, dass Ihnen vor Ihrer Abreise nach Japan sicher auch gute Dienste geleistet hätte.
Heute finden Sie die Japanstudien an der Humboldt-Universität in einem eigenen Gebäude im sog. Japanzentrum in der Johannisstraße, gleich hinter dem Friedrichstadtpalast und der Kalkscheune. Dort stehen heute Geisteswissenschaft, Etikette und Film im Mittelpunkt von Forschung und Lehre des personell chronisch unterbesetzten Instituts. Die 1984, noch zu DDR-Zeiten von dem Japanologen, Literaturwissenschaftler und bedeutenden Übersetzer Prof. Dr. Jürgen Berndt gegründete Mori-Ogai-Gedenkstätte, die einzige für einen Ausländer an einer deutschen Universität überhaupt, ist Außenstelle des Japanzentrums und Fenster zur Öffentlichkeit gleichermaßen.
Zurück zur Geschichte: 1810 begann das erste Semester an der neu gegründeten Berliner Universität mit 256 Studenten und 52 Lehrenden. 1887 bei Gründung des SOS waren im SS insges. 4654 Studierende an der Berliner Universität immatrikuliert. Heute im WS sind es (ohne Charite) allein 27.000. Da fallen die für dieses WS angemeldeten 12 Studenten aus Japan an der HU weniger auf, als die weitaus größere Zahl in den 1880ern.
(((Heute kommen sie aus sechs Universitäten (Konan, Chuo, Tokai, Hosei, Rikkyo, Ritsumeikan) und studieren hier Rechtswissenschaften, Germanistik, VWL, Erziehungswissenschaften, Regionalstudien, Kulturwissenschaft, Philosophie und Sozialwissenschaft. Im Sommersemester sind es in der Regel einige mehr.)))
Die HU pflegt heute in Japan Partnerschaften mit 9 Universitäten, und zwar mit der Rikkyo, Tokai, Chuo, Kyoto, Konan, Hosei, Ritsumeikan, Tokyo und Waseda-Universität (die Charite verfügt über noch 3 weitere). In den Genuss der Austauschprogramme kommen u.a. unsere Japanologie-Studenten, von denen alle zwei Jahre 8 Studenten für 10 Monate zur Sprachausbildung an die Tokai-Universität gehen, um dann ziemlich versiert von dort zurückkehren. Im Gegenzug haben wir für einen Monat 30 Studenten der Tokai-Uni bei uns zu Gast. Aus einer internen Umfrage wissen wir, dass es unabhängig von den Universitäts-Verträgen viele persönliche und institutionelle Kooperationen, ja Freundschaften mit jap. Fachkollegen gibt.
Was aber machte damals in der Meiji-Zeit, abgesehen vom internationalen Ruf renommierter Professoren, wie Robert Koch, Paul Ehrlich oder Rudolf Virchow, um nur einige zu erwähnen, die Attraktivität dieser Berliner Uni für Japaner aus? Die 29 Nobelpreisträger konnten es nicht sein, denn der erste Preis wurde erst 1901 vergeben, für Chemie erhielt ihn der Honorarprofessor der Berliner Universität Henricus van’t Hoff. Im folgenden Jahr ging der für Literatur an den ehemaligen Rektor und Prof. für Geschichte Theodor Mommsen. Im letzten Jahr habe ich eine Ausstellung gezeigt über den triumphalsten Empfang, der je einem Ausländer in Japan bereitet wurde, nämlich 1908 Robert Koch von seinen jap. Schülern. Als Albert Einstein, ebenfalls von 1915-29 Lehrender an dieser Universität, dann 1921 in Japan eintraf – auf dem Schiff dorthin hatte er die Nachricht von der Nobelpreisverleihung erhalten – war der Empfang ebenfalls berauschend, aber schon mit dem sog. Einstein-Schock verbunden. Solche Highlights sind gelungene Endpunkte von Prozessen, wie aber lernt man den steinigen Weg zum Erfolg und welches Umfeld braucht er?
Lassen wir stellvertretend Mori Ôgai zu Wort kommen, der die Berliner Universität gern als Spiegel und Projektionsfläche seiner Ideale und Reformbestrebungen in Japan nutzte und die Reibung, die dadurch entstand, vielfältig reflektiert hat. In seinem Nachlass befinden sich Dutzende von deutschsprachigen Schriften, die sich mit den Konzepten und Organisationsformen von universitären Einrichtungen auseinandersetzen.
Die Berliner Universität ist die geistige alma mater, auf die er sich beruft, wenn er in Japan für eine Atmosphäre der “Beförderung des Lernens” (gakumon no suiban, Wortschöpfung von Ôgai) kämpft. Schon 1888 hatte Ôgai in Berlin in seinem Tagebuch vermerkt: “Die Zeit ist vorüber, wo man die Früchte der Wissenschaft in Europa erlernte. Es ist höchste Zeit für die japanischen Studenten, das Lernen als solches zu lernen.” In seinen autobiografischen Selbstbetrachtungen Môsô (Illuisionen) schreibt er 1911 sinngemäß, seine Sympathie gehöre all jenen Forschern/Lernenden, die an einem Ort aushalten und kämpfen, der keine adäquate Atmosphäre für ihre Studien bietet. Sie seien wie Taucher, die unter hohem Wasserdruck arbeiten müssen. (Das kommt Ihnen sicher bekannt vor)
Am 21. März 1902, hielt Mori Ôgai in Kokura, wohin er für drei Jahre versetzt worden war, einen richtungsweisenden Abschiedsvortrag. Zunächst pflichtet er seinem Lehrer Prof. Erwin Bälz bei, der bei seiner vorzeitigen Entlassung aus dem Dienst der Kaiserlichen Universität Tokyo gewarnt hatte: “Mir scheint es nämlich, dass man in Japan vielfach eine falsche Auffassung von dem Entstehen und dem Wesen der westlichen Wissenschaft hat. Man betrachtet sie als Maschine, die im Jahr so und so viel Arbeit liefert und die man ohne weiteres anderswohin transportieren und dort arbeiten lassen kann. Das ist ein Irrtum. Die abendländische Wissenschaft ist keine Maschine, sondern ein Organismus, der wie jeder andere Organismus zu seinem Gedeihen ein bestimmtes Klima, eine bestimmte Atmosphäre braucht.” Dazu sei ein bestimmter Geist nötig, ein “Geist, den man nicht in den Hörsälen kennenlernt,… sondern nur im Umgang mit den Forschern selbst…Dieser Geist ist nicht leicht zu erlangen, er ist anspruchsvoll, er verlangt meist die ganze Zeit des Menschenlebens.” Die ausländischen Wissenschaftler seien nicht nach Japan gekommen als Überbringer der Früchte der Wissenschaft, sondern als Gärtner der Wissenschaft. (Welche Rolle hatten Sie wohl in Japan inne? Gemeinsam diesen Garten zu bestellen scheint mir ganz im Sinne der Richtlinien der JSPS zu stehen.)
In seinem Vortrag diskutiert Ôgai weiter, wie man sich als Individuum und Lernender der westlichen Kultur und insbesondere dem Studium im Ausland nähern sollte. Er widerspricht seinem Landsmann Tsubouchi Shôyô, der gefordert hatte, daß man erst dann ins Ausland gehen sollte, wenn man eine gefestigte Meinung habe. Ôgai meint, das wäre wie wenn man einen Gesteinsbrocken aus einem anderen Gebirge in das eigene Gebirge verpflanzen würde. Er könne höchstens dazu dienen, die eigenen Steine zu polieren. Er empfiehlt stattdessen in möglichst jungen Jahren unvoreingenommen, mit jungfräulicher Sensibilität sich dem Leben und Studium im Ausland hinzugeben. “Wenn man schon mit einem vollen Ranzen nach Europa kommt, paßt nichts mehr hinein. Je leerer er ist, umso mehr kann man aufnehmen.” “Auch die eigene Wahrnehmung sollte sich im Ausland ändern. Wenn wir die neue Umgebung mit unseren Werten wahrnehmen, können wir sie nicht erfassen, man muß ‘sich häuten’, psychologisch und im Denken.” Drei Tugenden empfiehlt er: Sehen, Fühlen, Denken!
Sind Sie gehäutet zurückgekehrt?
Im Mai 1914 veröffentlichte der inzwischen zum Generaloberstabsarzt des japanischen Heeres anvancierte Ôgai die Erzählung “Als ob” (Ka no yô ni). Wie der Titel verrät ist dieses Werk eine literarische Adaption des philosophisches Standartwerkes von Hans Vaihinger “Die Philosophie des Als Ob”, das erst ein Jahr vorher in Deutschland erschienen war. Ogais Vaihinger auf Japan angewandt beschäftigt sich vornehmlich mit dem Verhältnis von freier historischer Forschung zu den Mythen (in dem Falle des jap. Kaiserhauses) bzw. der Rolle der Religion. Der Held der Erzählung Hidemaro erinnert sich an sein Studium in Berlin unter dem Rektorat von Erich Schmidt (1853-1913, Rektor 1909/10), und beruft sich auf die Person und das Wirken des protestantischen Theologen und Wissenschaftsorganisators in Preußen Aldolf von Harnack. Hidemaro ist fasziniert von dem respektvollen Verhältnis zwischen Wilhelm II. und Harnack. Für ihn symbolisiert der Umgang der beiden das Modell einer fruchtbringenden Interaktion von Politik und Wissenschaft bei Wahrung der Autonomie beider Seiten. Daraus resultiere seiner Meinung nach die wahre Stärke Deutschlands.
In Ogais bekanntester, der 1890 veröffentlichten Berliner Novelle „Das Ballettmädchen“ kommt ein junger Japaner auf dem Karriereweg zum Politiker nach Berlin und hört an der hiesigen Universität Jura-Vorlesungen. Abgesehen von der sich entspinnenden Liebesgeschichte zu einer Deutschen, der ich seit 25 Jahren meine Auskommen und den beständigen Zustrom japanischer Romantiker in der Gedenkstätte zu verdanken habe, merkt der Held, der bislang passiv und mechanisch den an ihn gestellten Anforderungen nachgekommen war, wie die freiheitliche Atmosphäre der Universität ihn verwandelt hatte und ihn eine Unruhe ergriff.
Eine Unruhe, die der jap. Regisseur Shinoda bei der Verfilmung 1988 etwas ketzerisch wie folgt formulierte: Es ist „die Geschichte der Verzweiflung darüber, dass ein Japaner nicht frei sein kann, solange er ausschließlich in seinen japanischen Vorstellungen befangen ist.“
Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Deutschland, noch vor der literarischen Aufarbeitung seines Berlin-Erlebnisses im weitesten Sinne, fasste Ogai seine Auffassungen darüber, wie und was eine Universität sein sollte, in einem kämpferischen Artikel vom Juli 1889 zusammen unter dem Titel: “Über die Freiheit der Universität (Daigaku no jiyu wo ronzu)“. In einer Zeit, als durch die das Teikoku daigaku rei, die „Reichsuniversitätsverordnung“ von 1886 das höhere Bildungswesen staatlicherseits strenger kontrolliert werden sollte, beschreibt er polemisch seine Erfahrungen und Beobachtungen in Deutschland:
(Zitiert nach Schamoni)
Allein die deutsche Universität bewahrt, zwischen englischem Konservatismus und französischer Revolution stehend, ihre innere Freiheit, auch wenn sie gleicherweise unter dem Schutz der Regierung steht und deshalb nicht ganz ohne Einmischung durch die Regierung ist.
Die deutschen Studenten sind heute wie ehemals freie und ungebundene Männer. Wenn sie Vorlesungen hören, so halten sie sich nicht unbedingt an eine bestimmte Form oder folgen Ritualen. …man berechnet nicht durch Zählen von Monaten und Jahren den Lernfortschritt… Sie bestimmen selbst ihr Verhalten und sind in Reden und Handeln ungebunden.
Sie sind wie von ihrem Zaumzeug befreite Pferde oder wie am Himmel fliegende Vögel. Sie gehen täglich mit großen Wissenschaftlern und ehrwürdigen Gelehrten um, mit talentierten Männern und hervorragenden Menschen, sie beschäftigen sich mit Literatur und den Künsten, mit Fechten und Billardspiel…
Die Freiheit ist die Mutter der Verantwortung. Wo sonst als hier könnten [die Studenten] eine unabhängige Gesinnung entwickeln?…
Unter der großen Zahl von Studenten gibt es vielleicht einige, die sich selbst zugrunde richten, weil es keine Einschränkung durch eine Studienordnung der Universität gibt. Würde man diese Leute retten, indem man Einschränkungen schüfe und sie so ihr Studium mit knapper Not zu Ende bringen ließe, so würde man sie zweifellos zu folgsamen Beamten machen, aber man würde unter ihnen bestimmt keine Menschen finden können, die in die Halle der Wissenschaft eintreten, die ungewöhnliche Gedanken und Ansichten besitzen und unabhängig ein ganzes Zeitalter überblicken.“
Welch ein Anspruch! Von „keiner Einschränkung durch eine Studienordnung“ kann heute wohl kaum die Rede sein und die Studenten, die ich kenne lerne, sind alles andere als freie fliegende Vögel, haben zwischen Studienanforderungen und Job kaum Zeit zusätzliche Angebote wahrzunehmen. Letztlich geben die Zitate selbst in ihrer Entstehungszeit weniger die reale Situation deutscher Universitäten bzw. der Berliner Universität wieder als den vergleichsweise empfundenen Druck, ja womöglich Kulturschock eines jungen Japaners nach der Heimkehr in sein Heimatland, die ihm die Berliner Verhältnisse nahezu paradiesisch vorkommen lassen.
Bei aller Skepsis gegenüber dem Ogaiischen Pathos und einer blauäugigen Idealisierung deutscher Universitäten ist erstaunlich, wie er in einem Moment, als die Meiji-Regierung gerade das Modell Deutschland als das institutionelle Vorbild für das jap. Staats- und Bildungswesen präsentiert, wagt aus derselben Quelle einen freiheitlichen Geist dagegen zu setzen, der die Selbständigkeit des Einzelnen fordert wie auch die Selbstbestimmung der Universitäten.
Es gibt wohl kaum eine der von Ogai aufgeworfenen Fragen, die heute abschließend beantwortet wäre. Manchmal kommt es einem so vor, als hätten sich nur die Bedingungen des Ungleichgewichtes von institutionellen Normen und schöpferischen Freiräumen etwas verschoben. Hierzulande wiederum anders gewichtet als in unseren japanischen Partnereinrichtungen.
Meine Damen und Herren, fühlen Sie sich durch Ogai provoziert, weiter über das Thema Freiheit und Verantwortung nachzudenken oder zu diskutieren, welche Vor- oder Nachteile Ihre Situation hier hat zu dem, was Sie in Japan vorgefunden haben. Für Ihre persönliche Suche nach einer konstruktiven und fruchtbringenden Antwort auf den sich stets aufs Neue reproduzierenden Konflikt wünsche ich Ihnen alles Gute.
Falls Sie nun aber glauben, die Freiheit der Wissenschaft sie ein originär japanisches Problem , dann seien Sie an den großen Albert Einstein hat erinnert, der seine Traumberufe zum Glück doch nicht ergriffen hat und dennoch meinte: „Wenn ich noch einmal wählen könnte, dann würde ich Klempner oder Hausierer werden, um wenigstens ein bescheidenes Maß an Unabhängigkeit zu haben.“
Übrigens ist im Senatssaal die Bestuhlung erneuert worden. Wer einen dieser Stühle sponsort, kann seinen Namen auf die Rücklehne eintragen lassen. Das wäre doch ein gelungenes Omiyage, wenn man seinem jap. Sensei sagen kann: übrigens, Sie haben noch einen Stuhl an der Berliner Universität.
13.10.2009 Beate Wonde