Das Mittelalter im heutigen Kyoto-eine fotografische Spurensuche – UTSUMI Hiroshi
Fotokunst, 18.5. bis 27.8.2000
Rede zur Ausstellung
Das Thema der heute abend eröffneten Ausstellung lautet auf Japanisch, Kokon no miyako. Auf Deutsch heißt das: „Die kaiserliche Hauptstadt in alter Zeit und heute“, eigentlich nicht Hauptstadt, sondern mi-ya-ko, „der Ort, an welchem sich die miya befinden“, die „erlauchten Häuser“ des Kaiserhauses und Hofadels. Von Kyoto, der „alten Hauptstadt“ (koto), ist die Rede, von einer der schönsten Städte der Welt, wie viele sagen. Kyoto nennt sich auch heute noch gern Heian-kyô, was soviel heißt wie „Stadt des Friedens“.
Kyoto hat eine über zwölfhundertjährige Geschichte. Sie beginnt im Jahr 794, als die nach einem Entwurf auf dem Reißbrett aufgebaute Stadt Regierungsresidenz wird. Von Norden nach Süden dehnte sie sich über 5200 Meter aus, von Westen nach Osten 4450 Meter. Um den in Nordsüd-Richtung verlaufenden, mehr als achtzig Meter breiten Boulevard des zinnoberroten Sperlings als Achse war die ganze Stadt symmetrisch angelegt. Die derart, damals wie heute, in eine „linke Residenz“ (Sakyô) und eine „rechte Residenz“ (Ukyô) geteilte Stadt war in Längsrichtung von dreiunddreißig schnurgeraden parallelen Haupt- und Nebenstraßen durchzogen, die im rechten Winkel von neununddreißig Haupt- und Nebenstraßen geschnitten wurden. Schon um die Wende zum neunten Jahrhundert gehörten zum Stadtbild ca. achtzigtausend Häuser. In ihnen wohnten etwa vierhundertausend Menschen. Vorbild war die Hauptstadt des chinesischen T’ang-Reiches, Ch’ang-an, zu deutsch „Ewiger Friede“. Sie sehen, daß das Thema „Friede“ ein wichtiger Topos dieser Stadtlandschaft ist. Die östlichen und nördlichen Teile der Stadt bildeten in den folgenden Jahrhunderten den Mittelpunkt der höfischen Kultur Japans und stehen auch heute noch insbesondere für den erstmals nach Kyoto kommenden Reisenden im Zentrum des kulturgeschichtlichen Interesses, so Kiyomizu Dera, der „Tempel des Reinen Wassers“, Yasaka Jinja, der „Schrein der Acht Hügel“, Nanzen Ji, der „Südliche Tempel der Versenkung“, Chion In, der „Tempel der Weisheit und Gnade“, Ginkaku Ji, der „Silberne Pavillon“ u.v.a.
Einen ersten Rückschlag in der Entwicklung der alten Hauptstadt bildete 1192 die Errichtung eines neuen Regierungssitzes im fernen Osten der Hauptinsel, in der Stadt Kamakura, durch den neu aufgekommenen Militäradel. Im 14. Jahrhundert erlebt Miyako abermals eine Blüte, leidet aber zugleich unter den Bürgerkriegen der „Zeit der streitenden Lande“, die erst mit der Einigung des japanischen Reiches am Ende des 16. Jahrhunderts überwunden wurde. Immerhin soll Miyako gegen Ende der Kriegszeit um das Jahr 1560 von einer Million Menschen bewohnt gewesen sein, gemessen an den Verhältnissen im zeitgenössischen Europa eine unvorstellbar große Zahl. Seit dem 17. Jahrhundert verlagert die kulturelle Dynamik sich wieder nach Osten, diesmal in die Gegend des heutigen Tokio, wo die Residenz der Militärherrscher des Hauses Tokugawa liegt, die sich als Hüter der staatlichen Ordnung im Dienste des Kaiserhauses verstehen und die ihre Machtbefugnisse am Ende dieser Ära, in der Restauration unter Kaiser Meiji im Jahr 1868 wieder an den Tenno, den „Himmlischen Erhabenen“, zurückgeben. Regierungssitz des neuen Japan wird jedoch trotz der Restauration der kaiserlichen Herrschaft nicht Kyoto, sondern Tokyo, die „Kaiserliche Hauptstadt des Ostens“. Hierin sahen viele Kyotoer zunächst eine Benachteiligung ihrer Stadt. Heute aber dürfen sie sich in diesem Punkte klüger wähnen, denn diese Abstinenz der Moderne ermöglichte es Kyoto, seine überkommende Identität reiner zu wahren und sein Bild japanischer Tradition getreuer zu überliefern als es Städte wie Osaka oder Tokyo vermochten.
Wie Sie vielleicht wissen, gab es gegen Ende des Krieges den Plan, auch Kyoto in die Kriegsbombardierungen einzubeziehen. Daß Kyoto das Schicksal Hiroshimas und Dresdens erspart blieb, ist dem Zusammenwirken vieler Wohlmeinender auf beiden Seiten zu verdanken, die daran mitwirkten, Heiankyô, die „Stadt des Friedens“, zu erhalten. Zu den geschichtlich glücklichen Seiten dieser Stadt gehört, daß, anders als im Falle Dresdens, Ausstellungen wie diese möglich sind. In jener für Kyoto alles entscheidenden Zeit, im Jahr 1944 wurde der Fotograf Utsumi Hiroshi in dieser Stadt geboren. Er studierte an der Meiji-Universität in Tokyo und erlernte Filmregie. Seit 1971 arbeitet er in Kyoto als Fotograf. Seit den späten 80er Jahren hat Utsumi seine Werke in Austellungen der Öffentlichkeit vorgestellt. Seine Themen waren Asien: Pakistan, Nepal und der Himalaya und China, denn Kyoto liegt am äußeren Ende / Anfang der Seidenstraße, aber natürlich auch die Vier Jahreszeiten in der kaiserlichen Hauptstadt. Andere thematische Bezugspunkte bilden Werke der klassischen japanischen Literatur, wie die Gedichtanthologie „Geheime Sammlung von Staub auf Dachbalken“ (Ryôjin hishô), die „Geschichten des Hauses Taira“ (Heike monogatari) oder die Dreizeiler des modernen Dichters Taneda Santôka. In der Gedenkstätte können Utsumis Fotos nun erstmals im Ausland gesehen werden.
Ihnen, Utsumi Sensei, herzlichen Dank, daß Sie sich die Zeit genommen haben, heute abend hier zu sein. Sie wuchsen in einer Stadt auf, der wir wie keiner zweiten Stadt Impulse der japanischen Ästhetik verdanken, in einem Lande, das besonderen Anteil an der Entwicklung der Fotografie als Kunst und Technik hatte. Ihre erste Blüte erlebt die japanische Fotografie bereits gegen Ende der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts, als seine ersten beiden professionellen Fotografen wirkten, Ueno Hikoma und Shimooka Renjô, die beide für sich Fotostudios im Jahr 1862 einrichteten. Das Fotografieren war Teil der sogenannten Holländischen Wissenschaft bzw. Westlichen Wissenschaft, d.h. ein guter Fotograf mußte zunächst Niederländisch und Englisch studieren, um hinter die Geheimnisse der Lichtbildkunst zu kommen.
Fotografie galt dementsprechend auch als eines der „bummei kaika no nanatsu no dôgu“, d.h. als eines der „sieben Instrumente von Zivilisation und Aufklärung“. Die anderen sechs Instrumente waren Zeitungen, Post, Gaslicht, Dampfmaschinen, Ausstellungen und steuerbare Heißluftballons. Fotografen finden sich als Motive oft in den damals populären Zeitungen, den „nishiki-e“, den „Brokatbildern“, die mit kräftigen Farben in die eigenartige Bilderwelt Japans am Beginn der Moderne einführten, seine Fabriken und Eisenbahnen, seine Singer-Nähmaschinen und Klaviere vorstellen. Um 1870 gab es bereits über einhundert professionelle Fotografen in ganz Japan. Die nun folgende Entwicklung, in welcher japanische Fotografen es verstanden, die weltweiten Impulse aufzunehmen und zu den Traditionen der eigenen Ästhetik in Beziehung zu setzen, stellen eine faszinierende Geschichte dar, über die es mittlerweile zwar bereits eine gewisse Literatur auch in europäischen Sprachen gibt, die aber noch auf historisch interessierte Japanologen wartet. Dort, wo die japanische Fotografie heute nicht unterschiedslos in der Flut visueller Angebote untergeht, hat das zumeist etwas mit ihren Besonderheiten zu tun, die in den einheimischen ästhetischen Traditionen wurzeln.
Zu diesen Wurzeln gehört jene Ästhetik, die der inzwischen verstorbene Philosoph IZUTSU Toshihiko (1914-1993) in seinem Buch „Die Theorie des Schönen in Japan“ (Köln 1988) beschrieben hat. Zu nennen sind insbesondere die Begriffe der traditionellen Tee-Ästhetik, die auf Askese und Einssein mit den Dingen hinweisen, so wie es die Begriffe Wabi und Sabi ausdrücken oder auch Yûgen, die „geheimnisvolle Tiefe“.
Einen wichtigen Weg zum Verständnis dieser Ästhetik weist der Begriff mono no aware, das „Mitfühlen mit den Dingen / Wesen“. Der Begriff „Wesen“ (mono) weist auf das harmonische Einssein der „Zehntausend Mono“ hin. Die Blüte, die ich sehe oder fotografiere, ist nicht einfach ein Gegenstand / ein Objekt, sie ist ein Mono, so wie ich, der Fotograf, ein Mono, ein „Wesen“, bin und auch Sie, die Betrachter, jeder für sich, Mono sind. Die Blüte und ich sind beide vergänglich. Wir, die Blüte und ich, wissen um unsere Hinfälligkeit und haben deshalb Sympathie füreinander. So heißt es über die unscheinbar am Wegrand gelb blühende Nazuna:Yoku mireba nazuna hana saku kakine kana: „Recht schauend: da blüht die Nazuna an der Hecke, ach!“ Der Zen-Meister Suzuki Daisetsu zitierte dieses Haiku des Dichters Bashô aus dem siebzehnten Jahrhundert, um das Lebensgefühl des Meditationsbuddhismus zum Ausdruck zu bringen. Es geht also beim Vorgang des Abbildens der Fotografie um mehr als bloße Ästhetik. Manche, wie z.B. Utsumis Freund Yoshikawa Haruhisa, sprechen von einem religiösen Akt. „Sore wa bi wo koete, shûkyôteki na aru kyôchi wo shisa shite iru ka no gotoku de aru“, sagt er über Utsumis Kunst.
Es geht um eine Handlung, die mich, den Schauenden, „an die Dinge herangehen“ (kakubutsu; mono ni itaru) läßt, ihr „Prinzip ergründen“ (kyûri; ri wo kiwameru) läßt, mich in Beziehung setzt zu etwas, was, wie die traditionelle Sprache sagt, „über der Form“ (keijijô) steht und den Seinsgrund in mir mit dem Seinsgrund der anderen Mono zusammenfließen läßt. Das mag Europäern oder europäisch denkenden Japanern manchmal als als purer Ästhetizismus erscheinen. Und natürlich kennen wir diesen auch in der Kultur Japans. Aber der Unterschied zwischen einem echten „Herangehen an die Dinge“ und einem oberflächlichen Abbilden der Dinge erschließt sich dem darin Ungeübten keineswegs auf den ersten Blick, sondern erst in der Bereitschaft, sich auf den von Bashô ausgedrückten Gedanken der Gemeinschaft der Wesen einzulassen.